The Fall - Bilder aus 1001er Nacht
IND/UK/USA 2006
+++1/2
Am Anfang war das Bild. Zumindest im Kino. Noch bevor Filme einen Ton, einen Soundtrack und gesprochene Dialoge erhielten, begeisterte das Medium die Menschen mit nichts anderem als einer Vielzahl von Bildern. Das Kino erschuf eine neue Illusion. Von Bewegung, von Dynamik und von einer anderen Realität jenseits der weißen Leinwand. Über 100 Jahre nach der Geburtsstunde des Stummfilms sind wir heute nahezu überall von bewegten Aufnahmen umgeben. Da überrascht es nicht, dass die Faszination für Film und Kino nicht mehr dieselbe ist. Auch weil vieles schon zu oft gezeigt und inszeniert wurde.
Wie wunderbar ist es da, wenn ein Film die ausgetretenen Pfade verlässt. THE FALL hat das scheinbar Unmögliche möglich gemacht. Der Film beschwört die Magie des Kinos in ganz neuen Bildern und Kompositionen. Hinter dem Mammutprojekt, das eine Produktionszeit von vier Jahren verschlang, steckt der indischstämmige Film- und Videokünstler Tarsem. Künstler dürfte in diesem Zusammenhang wohl die richtige Umschreibung sein, ist Tarsem doch weit mehr als ein Regisseur, der nur das inszeniert, was andere sich für ihn ausgedacht haben. Anfang der neunziger Jahre machte er erstmals mit Musikvideos für R.E.M. und Deep Forest von sich Reden. Sein eigenwilliger Stil garantierte, dass Videos wie „Losing my Religion“ bis heute zitiert und kopiert werden. Bei seinem ersten Filmprojekt, dem Thriller THE CELL mit Jennifer Lopez, transferierte er seine künstlerische Vision in die perverse und verquere Gedankenwelt eines Serienkillers. Heraus kam ein visueller Albtraum, der zu gleichen Teilen zu faszinieren und schockieren wusste.
In THE FALL bot sich ihm nun erneut die Gelegenheit, unbekanntes Terrain zu erkunden und eine neue Welt zu erschaffen. Der Film führt uns zu den Anfängen des Kinos zurück. Bereits in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts riskierten tollkühne Stuntleute ihr Leben und ihre Gesundheit. Auch Roy (Lee Pace) ist ein solcher Hasardeur. Obwohl andere den Applaus ernten, liebt er seine Arbeit. Als er sich jedoch bei einem riskanten Stunt schwere Verletzungen zuzieht und zu allem Überfluss seine große Liebe mit einem bekannten Stummfilm-Star durchbrennt, verlässt ihn der Lebensmut. Roy denkt an Selbstmord. In diesem Augenblick lernt er im Krankenhaus die kleine Alexandria (Catinca Untaru) kennen. Das Mädchen fasst schnell Vertrauen zu dem ans Bett gefesselten Roy. Nicht ohne Hintergedanken beginnt dieser seiner Besucherin schon bald eine fantasiereiche Abenteuergeschichte um fünf sehr unterschiedliche Helden zu erzählen. Darin begeben sich der schwarze Krieger und Ex-Sklave Otta Benga (Marcus Wesley), der Sprengstoffexperte Luigi (Robin Smith), Charles Darwin (Leo Bill), ein geheimnisvoller Inder (Jeetu Verma) und ein maskierter blauer Bandit (Lee Pace zum Zweiten) gemeinsam auf einen Rachefeldzug gegen den korrupten, verhassten Gouverneur Odious (Daniel Caltagirone).
Die Suche nach dem Bösewicht dient THE FALL als roter Faden für eine bildgewaltige Reise durch ein fiktives Land, das in einer Szene an ein tropisches Paradies und wenig später an ein orientalisches Königreich erinnert. Roys Erzählungen werden dabei immer wieder von kleineren Episoden aus dem Krankenhausalltag unterbrochen, in denen vor allem die Beziehung zwischen dem lebensmüden Stuntman und der achtjährigen Alexandria im Mittelpunkt steht. Dass die rumänische Kinderdarstellerin Catinca Untaru zu Beginn der Dreharbeiten kein einziges Wort Englisch konnte, mag man kaum glauben, so natürlich und unbekümmert spielt sie ihren Part.
Der Clou an THE FALL liegt in der besonderen Erzählperspektive, die der Film einnimmt und die sich aus der Kombination von Roys Geschichte mit Alexandrias Vorstellungskraft ergibt. Auch wenn ein Erwachsener als Erzähler auftritt, sind die Bilder letztlich ein Produkt kindlicher Imagination. Das führt mitunter zu höchst amüsanten Missverständnissen, beispielsweise als Roy von einem „Indian“ erzählt und damit einen Indianer meint, Alexandria sich aber einen Inder samt Turban und imposanten Schnurrbart vorstellt. Dass viele Darsteller gleich in zwei verschiedenen Rollen auftauchen, ist ebenso wenig ein Zufall. Im weiteren Verlauf nähern sich die reale und die erdachte Welt immer weiter an bis beide schließlich miteinander verschmelzen.
Nun ist THE FALL aber keine intellektuelle Fingerübung und Tarsem nicht Charlie Kaufman. Er will nicht dozieren sondern uns in Erstaunen versetzen. Dazu gehören unvergessliche Bilder wie die der blauen Stadt Jodhpur, Szenen wie die der Hochzeit inmitten tanzender Derwische oder die spektakulären Aufnahmen eines schwimmenden Elefanten. In jedem Moment gibt es soviel zu entdecken, seien es die bizarren Schönheiten der Natur oder architektonische Meisterleistungen, die es so im Kino noch nie zu sehen gab. Ohne dabei Roys Geschichte und die der fünf tapferen Helden zu vergessen, entwickelt sich der Film Szene für Szene zu einem echten Sinnesrausch. Bereits die in schwarz-weiß gehaltene Titelsequenz lässt einem den Atem stocken. Derart elegant verpackt beschwört THE FALL ebenso eindrucksvoll wie schon Guillermo del Toros Fantasy-Märchen PANS LABYRINTH die Macht der Fantasie und die Freiheit unserer Gedanken. Gewissermaßen als Zugabe hält Tarsems Geniestreich am Ende noch eine bewegende Verbeugung vor den vergessenen Helden des Kinos bereit.
Wer THE FALL gesehen hat, kann sich kaum vorstellen, wieso der Film erst jetzt, zwei Jahre nach seiner Europa-Premiere auf der Berlinale, die mehr als verdiente Kinoauswertung erhält. Protegiert von David Fincher und Spike Jonze ist THE FALL endlich dort angekommen, wo er ohne jeden Zweifel hingehört.
Erschienen in DEADLINE#13.
1 Comments:
Sinnesrausch
Das trifft es wohl. Arg viel mehr ist es aber leider auch nicht. Die "Geschichte" baut mit fortschreitender Handlung in meinen Augen ab und wird, im Finale mündend, immer schwächer. Vier Jahre Landschaften filmen retten dann auch nicht, wenn man das Drehbuch vernachlässigt. Aber im Kino ist der trotzdem Pflicht.
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