Die Unbekannte - Eine Frau mit zwei Gesichtern
I/F 2006
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Egal ob Spaghetti-Western, Giallo oder das Autorenkino eines Fellini, der italienische Film hat über die letzten Jahrzehnte viele Genres und Richtungen maßgeblich geprägt und sie erfolgreich in alle Welt exportiert. Mittlerweile ist der Glanz früherer Tage jedoch merklich verblasst. Nur eine Handvoll Regisseure erreichen heute noch ein Publikum außerhalb ihres Heimatlandes. Giuseppe Tornatore gehört sicherlich dazu. Lange war es still um den Mann, der bereits vor zwanzig Jahren für Cinema Paradiso einen Oscar gewann. Sechs Jahre hat sich Tornatore für seinen neuen Film Zeit gelassen. Nachdem er in dem nostalgischen Coming-of-Age-Drama Malèna aus Monica Belluci einen internationalen Star machte, wendet er sich in Die Unbekannte einem deutlich sperrigeren und unbequemeren Stoff zu.
Es geht um sexuellen Missbrauch, um Gewalt gegen Frauen, um jahrelange Demütigung und ein menschenverachtendes System aus Abhängigkeiten und Einschüchterung. Bereits die erste Szene macht deutlich, dass hier die Machtverhältnisse sehr ungleich verteilt sind. In einer seltsamen Form der Fleischbeschau werden eine Reihe junger Frauen in einen Raum geführt. Einige von ihnen werden aufgefordert sich auszuziehen. Ihre Gesichter sind dabei die ganze Zeit von einer ausdruckslosen Maske verdeckt. Hinter einer Wand, in der kleine Löcher eingelassen sind, verfolgen einige gleichsam anonyme Augenpaare den Striptease der Mädchen. Was hier genau vorgeht, soll sich jedoch erst später wirklich klären lassen.
Szenenwechsel. Wir befinden uns plötzlich in einer namentlich nicht genannten Stadt in Nord-Italien. Eine dem Akzent nach zu urteilen aus Osteuropa stammende junge Frau (Xenia Rappoport) ist auf der Suche nach einer Wohnung und einer festen Anstellung. Der Koffer, den sie bei sich trägt, ist voller Geld. Geld, dessen Herkunft zunächst unbestimmt ist. Die Frau nennt sich selbst Irena. Sie bemüht sich in der Nachbarschaft um einen Job als Putzfrau. Dabei hat sie es auf ein ganz bestimmtes Haus abgesehen, in dem vor allem reiche Juwelierfamilien wohnen. Ihr Interesse gilt einem Goldschmiede-Ehepaar (Claudia Gerini, Pierfrancesco Favino) und deren Tochter Tea (Clara Dossena). Auch das scheint keineswegs ein Zufall zu sein.
An Ehrgeiz hat es Tornatore noch nie gemangelt. Doch selbst für einen Perfektionisten wie ihn erscheint Die Unbekannte seltsam überambitioniert. Das betrifft sowohl den Inhalt als auch die Form, in die er Irenas Geschichte zwängt. Von den ersten Minuten an versucht sich Tornatore an der intuitiven Vermischung zweier Zeitebenen, von denen die eine wie ein Blitz die andere immer wieder durchschlägt. Diese eruptiven Einschübe zeigen, was hinter Irena liegt, welches Martyrium sie durchlitten hat. Die irritierend weich und warm fotografierten Szenen stehen dabei in einem starken Kontrast zur eigentlichen Handlung um Irenas wohl nicht ganz zufällige Annäherung an das Goldschmiede-Ehepaar und deren Tochter. Nach einer Weile führt der immer wiederkehrende Rückgriff auf dieses Stilmittel jedoch zu unübersehbaren Abnutzungserscheinungen.
Natürlich holt die Vergangenheit auch Irena eines Tages ein. In Person ihres früheren Peinigers Muffa (Michele Placido) kommt der Terror zurück in ihr Leben. Dann erhält die vorher nur recht abstrakt spürbare Bedrohung auf einmal eine sehr konkrete Gestalt. Untermalt wird all dies von einem atmosphärischen, zuweilen aber auch recht aufdringlichen Score des Altmeisters Ennio Morricone, der sich offenkundig von den Kompositionen eines Bernard Herrmann und den Suspense-Klassikern Alfred Hitchcocks inspirieren ließ (auch wenn er das niemals zugeben würde). Überhaupt folgt Tornatore einem Konzept, das dem eines typischen Hitchcock-Thrillers schon recht nahe kommt, wobei er allerdings gerade im letzten Filmdrittel den geradlinigen Thriller-Plot links liegen lässt, um stattdessen in mehr als sentimentalen Gewässern zu fischen.
Spätestens dann zeigt sich auch, dass Tornatore einfach zu viel will, weil er zu viel und zu Gewichtiges zu erzählen hat. Irena soll den Zehntausenden Frauen ein Gesicht geben, die mit falschen Versprechungen nach Westeuropa gelockt und dann von ihren Peinigern nur noch wie ein Stück Vieh behandelt werden. Diese sicherlich ehrenwerte Absicht will nicht so recht zu dem eigentlich simplen Exploitation-Thema passen. Wo Die Unbekannte zunächst mit Versatzstücken des genuin italienischen Giallos durchaus versiert spielt – auch bei Tornatore wird das Vergießen von Blut reichlich kunstvoll inszeniert –, flüchtet sich der Film am Ende in einen berechenbaren Plot-Twist, der Genre-Kennern nicht mehr als ein kurzes Schmunzeln entlocken dürfte. Auch von der anfangs bedrohlichen Grundstimmung, die wohl nicht ganz zufällig an einen David Lynch-Albtraum erinnert, ist dann nichts mehr zu spüren. Wird der Zuschauer bei Lynch nämlich zumeist sich selbst überlassen, bleiben hier schlussendlich keine Fragen offen.
Für BlairWitch.de.
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