Shortbus - Generation 9/11
USA 2006
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New York nach 9/11. John Cameron Mitchell (Hedwig and the Angry Inch) lässt in der Stadt, die niemals schläft, Charaktere voller Obsessionen und Sehnsüchte in einem extravaganten Szene-Nachtclub mit Namen Shortbus aufeinander prallen. Während einige ihre Erfüllung in ekstatischem Gruppensex und Partnertausch finden, drohen andere an der Suche nach ihrem eigenen Glück zu zerbrechen. Mitchell drehte eine radikale Bestandsaufnahme großstädtischen Lebens, die über weite Strecken zu faszinieren weiß.
Filmkritik:
Jeder ist eine Insel, jeder lebt und stirbt für sich allein. Es ist ein Gefühl der Verlorenheit, das den Videokünstler Jamie (Paul Dawson), der selbst James genannt werden möchte, bestimmt. Zuletzt haben die Spannungen in der langjährigen Beziehung zu seinem Freund Jamie (PJ DeBoy) merklich zugenommen, ihre Partnerschaft und Sexualität droht einzuschlafen. Aus diesem Grund suchen beide die Paartherapeutin Sofia (Sook-Yin Lee) auf. Deren Sexleben ist jedoch keineswegs so erfüllt, wie es zunächst den Anschein hat. Trotz ausgefallener Stellungen und Techniken mit ihrem potenten Mann Rob (Raphael Barker) hat sie noch nie einen Orgasmus erleben dürfen. Es sind Jamie und James, die als erste diese Wahrheit von ihr erfahren. Sie beschließen, Sofia in den angesagten Nachtclub Shortbus einzuladen, wo sich ihre Wünsche endlich erfüllen sollen. Dort lernt Sofia die als Domina arbeitende Severin (Lindsay Beamish) kennen. Viel lieber, als Männer für Geld zu erniedrigen, würde sie ihre auf Polaroid gebannten Alltagsfotografien verkaufen. Eine respektierte Künstlerin zu sein, danach sehnt sie sich. Und nach einem Partner, der sie versteht.
Drei Handlungsstränge verwebt Regisseur und Autor John Cameron Mitchell zu einem urbanen Kaleidoskop, dessen beiläufige Konstruktion nicht zufällig an die Episodenstücke eines Robert Altman (Short Cuts) und Paul Thomas Anderson (Magnolia) erinnern. Mit Andersons Dramen verbindet Shortbus zudem der effektive und stimmungsvolle Einsatz von Originalmusik. Melancholische, gefühlvolle Stücke von Yo La Tengo, Azure Ray und dem Songwriter Scott Matthew, der auch im Film als Musiker zu sehen ist, kommentieren das Innenleben von Mitchells Figuren, unaufdringlich und angenehm zurückhaltend.
Dafür legt Mitchell beim Thema Sex jede in diesem Kontext falsche Zurückhaltung ab. Explizit, ohne pornographisch zu sein, stellt Shortbus die unterschiedlichsten sexuellen Spielarten dar. Masturbation, orale Selbstbefriedigung (!), Gruppensex, Kama Sutra, ob gleichgeschlechtlich oder hetero, alles ist möglich. Das geht weit über das hinaus, was in Larry Clarks oftmals angefeindeten Jugenddramen zu sehen war. Für Kontroversen dürfte mit Sicherheit ein schwuler Dreier sorgen, bei dem ein erregierter Penis als Mikrofonersatz genutzt wird, um sogleich mit voller Inbrunst die amerikanische Nationalhymne zu intonieren. Dabei ist Mitchell nur konsequent. Er zeigt lediglich das, worüber seine Protagonisten reden, worüber sie sich den Kopf zerbrechen. Eine erfüllte Sexualität, Nähe und Intimität bestimmen ihr Denken.
Vermutlich muss sich Shortbus mit dem Schicksal abfinden, auf seine Sexszenen reduziert zu werden. Das wäre ein echtes Ärgernis, bietet der Film doch eine atmosphärisch dichte und ungefilterte Bestandaufnahme des Post 9/11-Lebensgefühls einer verunsicherten und an sich selber zweifelnden Generation. Das mit den Darstellern in mehreren Workshops erarbeitete Skript und die natürlichen teilweise improvisierten Dialoge, die niemals in selbstgefällige Geschwätzigkeiten ausarten, verleihen Mitchells Arbeit einen faszinierenden realistischen Anstrich. Mit Ausnahme der letzten zehn Minuten, in denen Mitchell sich einer Überdosis „Heile Welt“-Kitsch hingibt, gelingt ihm auf diese Weise eine tragische wie überraschend humorvolle Annäherung an ein schwieriges Sujet. Der unverkrampfte Umgang mit Sexualität bleibt positiv in Erinnerung, ohne dabei alles zu dominieren. Mitchell selber bestätigt nach vielen Gesprächen mit Zuschauer diesen Eindruck: „Die meisten Leute erzählen mir, dass sie all den Sex bereits vergessen haben, wenn er Film zu Ende ist. Sex ist nur ein Aspekt, ein Pinselstrich im Leben meiner Figuren.“ Dazu findet er in einer Szene das passende Bild. Ein Freier ejakuliert auf ein expressionistisches Gemälde. Mit einem Schritt Abstand löst sich das Sperma in der Struktur des Bildes auf - für unsere Augen nicht mehr zu erkennen.
Für Programmkino.de.
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New York nach 9/11. John Cameron Mitchell (Hedwig and the Angry Inch) lässt in der Stadt, die niemals schläft, Charaktere voller Obsessionen und Sehnsüchte in einem extravaganten Szene-Nachtclub mit Namen Shortbus aufeinander prallen. Während einige ihre Erfüllung in ekstatischem Gruppensex und Partnertausch finden, drohen andere an der Suche nach ihrem eigenen Glück zu zerbrechen. Mitchell drehte eine radikale Bestandsaufnahme großstädtischen Lebens, die über weite Strecken zu faszinieren weiß.
Filmkritik:
Jeder ist eine Insel, jeder lebt und stirbt für sich allein. Es ist ein Gefühl der Verlorenheit, das den Videokünstler Jamie (Paul Dawson), der selbst James genannt werden möchte, bestimmt. Zuletzt haben die Spannungen in der langjährigen Beziehung zu seinem Freund Jamie (PJ DeBoy) merklich zugenommen, ihre Partnerschaft und Sexualität droht einzuschlafen. Aus diesem Grund suchen beide die Paartherapeutin Sofia (Sook-Yin Lee) auf. Deren Sexleben ist jedoch keineswegs so erfüllt, wie es zunächst den Anschein hat. Trotz ausgefallener Stellungen und Techniken mit ihrem potenten Mann Rob (Raphael Barker) hat sie noch nie einen Orgasmus erleben dürfen. Es sind Jamie und James, die als erste diese Wahrheit von ihr erfahren. Sie beschließen, Sofia in den angesagten Nachtclub Shortbus einzuladen, wo sich ihre Wünsche endlich erfüllen sollen. Dort lernt Sofia die als Domina arbeitende Severin (Lindsay Beamish) kennen. Viel lieber, als Männer für Geld zu erniedrigen, würde sie ihre auf Polaroid gebannten Alltagsfotografien verkaufen. Eine respektierte Künstlerin zu sein, danach sehnt sie sich. Und nach einem Partner, der sie versteht.
Drei Handlungsstränge verwebt Regisseur und Autor John Cameron Mitchell zu einem urbanen Kaleidoskop, dessen beiläufige Konstruktion nicht zufällig an die Episodenstücke eines Robert Altman (Short Cuts) und Paul Thomas Anderson (Magnolia) erinnern. Mit Andersons Dramen verbindet Shortbus zudem der effektive und stimmungsvolle Einsatz von Originalmusik. Melancholische, gefühlvolle Stücke von Yo La Tengo, Azure Ray und dem Songwriter Scott Matthew, der auch im Film als Musiker zu sehen ist, kommentieren das Innenleben von Mitchells Figuren, unaufdringlich und angenehm zurückhaltend.
Dafür legt Mitchell beim Thema Sex jede in diesem Kontext falsche Zurückhaltung ab. Explizit, ohne pornographisch zu sein, stellt Shortbus die unterschiedlichsten sexuellen Spielarten dar. Masturbation, orale Selbstbefriedigung (!), Gruppensex, Kama Sutra, ob gleichgeschlechtlich oder hetero, alles ist möglich. Das geht weit über das hinaus, was in Larry Clarks oftmals angefeindeten Jugenddramen zu sehen war. Für Kontroversen dürfte mit Sicherheit ein schwuler Dreier sorgen, bei dem ein erregierter Penis als Mikrofonersatz genutzt wird, um sogleich mit voller Inbrunst die amerikanische Nationalhymne zu intonieren. Dabei ist Mitchell nur konsequent. Er zeigt lediglich das, worüber seine Protagonisten reden, worüber sie sich den Kopf zerbrechen. Eine erfüllte Sexualität, Nähe und Intimität bestimmen ihr Denken.
Vermutlich muss sich Shortbus mit dem Schicksal abfinden, auf seine Sexszenen reduziert zu werden. Das wäre ein echtes Ärgernis, bietet der Film doch eine atmosphärisch dichte und ungefilterte Bestandaufnahme des Post 9/11-Lebensgefühls einer verunsicherten und an sich selber zweifelnden Generation. Das mit den Darstellern in mehreren Workshops erarbeitete Skript und die natürlichen teilweise improvisierten Dialoge, die niemals in selbstgefällige Geschwätzigkeiten ausarten, verleihen Mitchells Arbeit einen faszinierenden realistischen Anstrich. Mit Ausnahme der letzten zehn Minuten, in denen Mitchell sich einer Überdosis „Heile Welt“-Kitsch hingibt, gelingt ihm auf diese Weise eine tragische wie überraschend humorvolle Annäherung an ein schwieriges Sujet. Der unverkrampfte Umgang mit Sexualität bleibt positiv in Erinnerung, ohne dabei alles zu dominieren. Mitchell selber bestätigt nach vielen Gesprächen mit Zuschauer diesen Eindruck: „Die meisten Leute erzählen mir, dass sie all den Sex bereits vergessen haben, wenn er Film zu Ende ist. Sex ist nur ein Aspekt, ein Pinselstrich im Leben meiner Figuren.“ Dazu findet er in einer Szene das passende Bild. Ein Freier ejakuliert auf ein expressionistisches Gemälde. Mit einem Schritt Abstand löst sich das Sperma in der Struktur des Bildes auf - für unsere Augen nicht mehr zu erkennen.
Für Programmkino.de.
6 Comments:
Wie Thoro so schön bei kino.de im Last seen Board geschrieben hat, ist das Ende doch irgendwie für NY passend, deswegen finde ich es nicht so ärgerlich!
na ja, das ende bricht aus dem zuvor gesteckten rahmen schon deutlich aus - nicht unbedingt zum positiven wie ich finde, weil mitchell unter dem pompösen aufmarsch viele noch offene wunden und fragen zudeckt.
PS: Dein nick bei kino.de ist...? ;-)
Hallo Marcus,
ich wurde gerufen? Nein, nur zitiert ... ;o) Ja - in der Tat - das Ende ist für mich für NY sehr passend, da es eben, wie Du so schön schreibst, aus dem Rahmen fällt. Wenn man in NY aus dem Rahmen fällt, ist man schon wieder "normal", soll heißen: Man fällt auf, wenn man es nicht tut ;-) Hier kommt aber noch die leichte Selbstbeweihräucherung auf. Man feiert seine vermeintliche "Abnormalität". Dass das nicht so richtig zum Film passt, ist mir auch aufgefallen, allerdings passt es halt zu NY und deswegen kann ich darüber hinweg sehen, wenn auch mit einem verzerrten Gesicht. Ansonsten volle Zustimmung! Schönen Gruß auch an "Mr(s). anonym" ^^
@ thoro
genau, sie feiern sich selbst. das finde ich gar nicht schlimm. eher störte es mich, dass mitchell doch etwas zu sehr das kitsch-fass öffnet, das er zuvor so gut unter verschluss gehalten hat.
mr(s). anonym?
"mr(s). anonym?"
Ging die Frage an mich? Ich grüßte eben Mr. oder Mrs. "anonym" ;o) Hat sich ja noch nicht geoutet, oder?
Btw: Ich könnte jetzt noch eine andere Beschreibung für den Schluss finden und würde doch immer wieder bei dem Punkt landen: Der Schluss passt nicht zum Film - aber zu NY ;-)
Shortbus zeigt oft Schwule, selten Lesben. Dem Film nach sind Lesben untereinander eher aggressiv, Männer untereinander - ja - sehr verständnisvoll. Ich würde mir von Frauen untereinander auch ein solches Verhalten wünschen.
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