Tage oder Stunden - Kalkulierter Amoklauf
F 2008
+++1/2
Antoine hat sich geschworen, auf nichts und niemandem mehr Rücksicht zu nehmen. Scheinbar gelangweilt von einem auf den ersten Blick perfekten Wohlstandsleben bricht er mit sämtlichen Konventionen. Nach dem eher gemütlichen, mitunter leicht kitschigen Dialog mit meinem Gärtner schlägt Regisseur Jean Becker in seinem neuen Film ganz andere Töne an. Tage oder Stunden erweckt anfangs den Eindruck einer schonungslos offenen, bitterbösen Satire. Erst später zeigt sich, dass uns Becker damit auf eine völlig falsche Fährte gelockt hat. Das Ende provoziert, erschüttert und überrascht zugleich.
Filmkritik:
Er ist der Prototyp eines egozentrischen, von sich eingenommenen Ekels. Antoine (Albert Dupontel) sagt das, was er denkt und macht das, was er für richtig hält. Doch weder seine Frau Cécile (Marie-Josée Croze) noch seine Freunde verstehen, warum sich Antoine plötzlich so verhält. Während sie ihn verdächtigt, eine Geliebte zu haben, erlaubt er sich auf der Arbeit einem Kunden gegenüber ausfallend zu werden. Ohnehin scheint ihn der Job als Mitinhaber einer Werbeagentur nur noch anzuöden. Kurzerhand wirft er die Brocken hin und kehrt der oberflächlichen Werbewelt den Rücken. Selbst die von Freunden organisierte Überraschungsparty zu seinem Geburtstag endet in einem Desaster. Antoine tritt die Flucht an. Ihn zieht es nach Irland, dorthin, wo sein Vater (Pierre Vaneck) bereits seit über dreißig Jahren ein naturverbundenes Leben führt.
Der neue Film von Jean Becker (Dialog mit meinem Gärtner) beginnt als ätzende Satire, die kein Blatt vor den Mund nimmt und einem (Anti-)Helden, der in der Rolle des geborenen Zynikers aufzugehen scheint. Vieles erinnert zunächst an den französischen Medien-Rundumschlag 39,90, dessen ätzender Blick gleichsam so manche Banalität und Verlogenheit unseres modernen Konsumverhaltens entlarvte. Antoine mag, so wie er von Becker hier eingeführt wird, ein Unsympath sein und dennoch möchten wir ihm insgeheim dafür applaudieren, dass er die nicht immer angenehmen Wahrheiten endlich offen ausspricht. Wo wir uns vielleicht aus Angst um die Konsequenzen oder aus Gründen der „Political Correctness“ um eine ehrliche Antwort drücken würden, kennt er kein Pardon. Dass er dabei immer öfter über das Ziel hinausschießt, erzeugt bisweilen aber auch Unbehagen, was sicherlich Beckers Intention entspricht.
Albert Dupontel verkörpert den augenscheinlich vom Leben gelangweilten und von einer Art Midlife-Crises erfassten Mittvierziger jederzeit glaubhaft. Hat sein Spiel zu Beginn etwas Spitzbübisches an sich, so verkehrt sich diese Haltung mit zunehmender Laufzeit in etwas Bedrohliches, fast schon Manisches, das sich zunächst nicht genau kategorisieren lässt. Wenn Antoine in Irland ankommt und seinen Vater aufsucht, kippt die Stimmung. Dort, wo Beckers Film in seiner ersten Stunde auf das satirische Element setzte, macht sich plötzlich eine tiefe Melancholie breit. Erst in den letzten Minuten enthüllt der Film schließlich seine wahren Absichten, die Antoines Verhalten und Entscheidungen rückblickend in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen.
Obgleich diese Wende wohl kalkuliert ist und die Handlung auf sie wie auf einen schwarzen Punkt zusteuert, ist man als Zuschauer nicht wirklich vorbereitet auf das, was Tage oder Stunden in letzter Konsequenz beschreibt. Das Ende, das in einem anderen Kontext leicht zu einer manipulativen, inhaltsleeren Geste verkommen könnte, setzt ein dickes Ausrufezeichen hinter Antoines Geschichte. Der wiederum hat die Maske des Zynikers zu diesem Zeitpunkt längst abgenommen. Was genau dahinter zum Vorschein kommt, das sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur soviel: In jedem Fall bricht es einem das Herz, wenn ganz zum Schluss Serge Reggiani sein „Le Temps Qui Reste“ vorträgt und so einen in sich stimmigen Film auf unverwechselbare Art abrundet.
Für Programmkino.de.
1 Comments:
Danke für den Tipp, der Film ging komplett an meiner Wahrnehmung vorbei.
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