Montag, Oktober 30, 2006

Snow Cake - Auf der Flucht

USA 2006

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Schneekristalle eignen sich aufgrund ihrer feingliedrigeren Struktur und Verschiedenheit ganz besonders als Metapher für zerbrechliche Persönlichkeiten. Wenn die Sonne im Frühling dann die weiße Schneedecke zusammenschmelzen lässt, kommt unter der zuvor vereisten Oberfläche so manche Überraschung zum Vorschein. In Marc Evans feinfühliger Tragikomödie Snow Cake ist es der von Alan Rickman verkörperte Alex, der nach einem tragischen Unfall mit den Wahrheiten seiner Vergangenheit konfrontiert wird. - Der Eröffnungsfilm der Berlinale 2006.

Filmkritik:

Snow Cake beginnt gleich mit einem dramaturgischen wie emotionalen Paukenschlag. Gerade erst aus England in den verschneiten Weiten Kanadas angekommen, wird der schüchterne Ex-Sträfling Alex (Alan Rickman) in einen tödlichen Autounfall verwickelt. Während er wie durch ein Wunder unverletzt bleibt, stirbt die junge Frau (Emily Hampshire), die er kurz zuvor als Anhalterin mitgenommen hat, noch am Unfallort. Alex beschließt, die Mutter der Toten aufzusuchen und ihr sein Beileid auszusprechen. Dabei macht er eine überraschende Entdeckung: Statt den plötzlichen schweren Verlust der Tochter zu betrauern, nimmt Linda (Sigourney Weaver) die Nachricht sehr gefasst, beinahe ungerührt zur Kenntnis. Zu diesem Zeitpunkt weiß Alex allerdings noch nicht, dass Linda eine Autistin ist, die in ihrer ganz eigenen Welt lebt. Sie liebt Ordnung und Sauberkeit, den Geschmack von Schnee und Glitzerkugeln in allen möglichen Variationen.

Bis zur Beerdigung möchte Alex Linda zur Seite stehen. Sogar die Organisation der Trauerfeier übernimmt er. Je näher er Linda in jenen Tagen kennenlernt, desto mehr respektiert und schätzt er ihre Eigenarten. Indem er zugleich die Bekanntschaft der attraktiven Nachbarin Maggie (Carrie-Anne Moss) macht, mit der er eine leidenschaftliche Affäre beginnt, nehmen die Ereignisse auch für ihn eine unerwartete Wendung.

Autismus ist spätestens seit Barry Levinsons oscarprämierten Drama Rain Man auch einem größeren Publikum ein Begriff. Diese Menschen leben nach Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die sich einem als Außenstehender nur selten erschließen. Oftmals verbergen sie ihre Gefühle, das, was sie wirklich beschäftigt, hinter einem undurchdringlichen Schutzpanzer. Das Drehbuch von Angela Pell porträtiert ohne falsche Rührseligkeit oder Mitleid erregenden Kniffe die mühsame Annäherung an diese für uns fremde weil so andere Wahrnehmung der Realität. Alex lernt Dinge aus Lindas Blickwinkel zu betrachten, er bringt Verständnis für sie auf. Beides verweist auf die Kernaussage des Films: Jeder Mensch sollte gerade in seiner Unvollkommenheit und mit seinen Schwächen respektiert werden.

Und darin werden sogleich Alex und dessen Probleme miteingeschlossen. Seite für Seite füllen sich die anfangs leeren Blätter mit den Geschehnissen seiner Vergangenheit. Wenn er schlussendlich in einer der letzten Szenen Maggie die ganze Geschichte erzählt und erklärt, warum es ihn nach Kanada verschlagen hat, stellt der reine Inhalt seiner Worte wahrlich keine Überraschung dar – weder für Maggie noch für den Zuschauer – und dennoch nimmt einen dieser Moment emotional ungemein mit. Ganz einfach deshalb, weil es Evans und Pell zuvor verstanden haben, uns Alex nicht als eine Figur in einem berechenbaren Plot, sondern als Individuum vorzustellen.

Selbstredend hat der britische Charakterdarsteller Alan Rickman ebenfalls einen großen Anteil daran, dass Snow Cake über die Summe seiner gefälligen Einzelteile hinaus bewegt und einnimmt. Indem er Alex mit einer scheinbar zen-artigen Ruhe ausstattet, welche sich in kurzen eruptiven Gefühlsausbrüchen entladen darf, sind ihm die Sympathien des Publikums gewiss. Etwas differenzierter verhält es sich dagegen mit Sigourney Weavers Rolle. Unabhängig davon, ob ihre Darstellung einer Autistin in jedem Detail zutreffend ist, merkt man mitunter sehr deutlich, dass sie die viel zitierte Authentizität förmlich zu erzwingen versucht. Rickman verschwindet spätestens nach einer Viertelstunde ganz hinter seiner Figur, Weaver bleibt dagegen immer Weaver.

Obwohl Snow Cake schwierige Themen wie den Verlust des Kindes, den persönlichen Umgang mit Einsamkeit und Schuld behandelt, durchzieht Evans Film stets die berechtigte Hoffnung auf einen glücklichen und erfüllten Neuanfang. Den hat jeder verdient. Egal ob er Alex, Maggie oder Linda heißt. Spätestens, wenn der Schnee taut und der nächste Frühling sich ankündigt.

Erschienen bei Programmkino.de.

Freitag, Oktober 27, 2006

Ein Freund von mir - Zwei neue absolute Giganten

D 2006

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Im Schatten des Zwergen-Wahnsinns ist mit Sebastian Schippers Ein Freund von mir eine kleine charmante und warmherzige Komödie über eine sehr ungewöhnliche Männerfreundschaft angelaufen. Die Schauspiel-Stars Jürgen Vogel und Daniel Brühl standen zum ersten Mal gemeinsam vor der Kamera, was ihnen sichtlich Spaß gemacht hat. Wie schon in seinem viel beachteten Debüt Absolute Giganten gelingt es Schipper, eine melancholische aber zugleich optimistische und lebensbejahende Stimmung zu kreieren. Die Geschichte, die mit leisen Tönen zu überzeugen weiß, balanciert eine unverkrampfte Buddy-Komödie gegen die Lebens- und Sinnkrise eines an der Welt gelangweilten Mitzwanzigers aus. Wer sich selber ein Bild davon machen will, sollte nicht zögern, ins Kino zu gehen und meine Besprechung auf Critic.de nachlesen.

Mittwoch, Oktober 25, 2006

Ein gutes Jahr - Postkartenmotive für Pilcher-Fans

USA 2006

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Sechs Jahre nach Gladiator kommt es zu einer Wiedervereinigung des Duos Scott/Crowe. Ein gutes Jahr ist jedoch von blutigen Sandalenschlachten denkbar weit entfernt. Scott erdachte das Grundgerüst der Handlung zusammen mit dem Schriftsteller Peter Mayles. Darin lernt der von Russell Crowe dargestellte gerissene Börsenspekulant die Vorzüge der entspannten französischen Lebensweise kennen und lieben. Auf einem nach dem Tod seines Onkels geerbten Weingut in der Provence findet der gestresste Workaholic zu sich – und zu seiner großen Liebe.

Filmkritik:

Max Skinner (Russell Crowe) ist der Prototyp des geld- und karrieregeilen, skrupellosen Börsenjongleurs, wie man ihn seit Oliver Stones Wall Street kennt. Wie sein berühmtes Vorbild Gordon Gekko interessiert sich auch Max nur für eins: Den schnellen Gewinn. Um seine Rivalen zu demütigen, schreckt er auch vor manch zweifelhaften Methoden nicht zurück. Als ihn die Nachricht vom Tod seines Onkels Henry (Albert Finney) ereilt, und ihm mitgeteilt wird, dass er als dessen engster Verwandter ein Weingut in der Provence erben soll, reist er umgehend nach Frankreich. Dort will er eigentlich nur schnell alle Formalitäten erledigen, die zum Verkauf des Chateaus notwendig sind. Doch während er das malerische Anwesen erkundet, werden für ihn die Erinnerungen an seine glückliche Kindheit bei Onkel Henry wieder lebendig. Max spürt, dass von diesem Ort eine ganz eigene Faszination ausgeht. Schließlich lernt er im benachbarten Städtchen die attraktive Fanny (Marion Cotillard) kennen, der ein kleines Straßencafé gehört. Auf einmal scheinen London und die hektische Welt der Hochfinanz ihre Bedeutung für Max verloren zu haben.

Nach dem oscarprämierten Welterfolg Gladiator arbeiteten der britische Filmemacher Ridley Scott und der gebürtige Australier Russell Crowe ein weiteres Mal zusammen. Die Idee zu einem neuen Filmprojekt entstand bereits zu Gladiator-Zeiten. Basierend auf dem Roman Ein guter Jahrgang von Peter Mayles, der gemeinsam mit Scott die Grundzüge der Geschichte entwickelte, erzählt der Film von einem geradezu klassischen Transformationsprozess. Wie der Geizhals Ebenezer Scrooge in Charles Dickens Weihnachtsgeschichte muss sich auch Max zwangsläufig den Schattenseiten seines alten Lebens stellen. Nur so kann er schlussendlich in der Idylle und Abgeschiedenheit der Provence nicht nur die große Liebe sondern auch seinen inneren Frieden finden.

Was sich plakativ und berechenbar anhört, setzt Scott gleichsam brav und bieder um. Die Inszenierung besitzt keinerlei Überraschungsmomente. Die nahezu über die gesamte Zeit in einem verkitscht goldenen Licht eingetauchte Landschaft scheint sich gleich für einen Werbefilm über die Provence empfehlen zu wollen. Zumindest der dortige Tourismusverband dürfte über soviel kostenlose PR hocherfreut sein. Aus einem bräsigen und kalkulierten Plot, der vor keinem noch zu plattem Klischee in Bezug auf Frankreich und der Philosophie des „Savoir Vivre“ zurückschreckt – eine ganze Region präsentiert sich als ein einziges nie enden wollenden Straßencafé – ragen lediglich die eingestreuten Rückblenden auf Max Kindheit heraus. Dank der Natürlichkeit des Jungdarstellers Freddy Highmore haftet ihnen nicht die Abgeklärtheit des übrigen Films an.

Crowe, das wird alsbald deutlich, besitzt für leichte Unterhaltungskost einfach nicht das nötige Handwerkszeug. Wie Tom Hanks in Big stapft Crowes vom Saulus zum Paulus gewandelter Ex-Yuppie fortwährend mit einer kindisch-naiven Mimik durch die pittoreske Szenerie. Erschwerend kommt hinzu, dass dem Drehbuch von Marc Klein kaum mehr einfällt, als Phrasen wie „Dieser Ort muss sich nicht Deinem Leben anpassen, sondern Dein Leben diesem Ort“ über zwei Stunden Zelluloid auszuwälzen. Wer unbedingt einen Ausflug in die Welt des Weines unternehmen will, sollte auf den in allen Belangen überlegenen Sideways zurückgreifen.

Erschienen bei Programmkino.de.

Sonntag, Oktober 22, 2006

Borat - Jagshemash!!!

USA 2006

+++1/2

Hier hat der Irrsinn Methode! Sacha Baron Cohen alias Ali G alias der kasachische TV-Moderator Borat Sagdiyev fällt über die USA her. Sozusagen eine "Operation: Freedom of U, S and A". Nichts und niemand ist vor ihm sicher: Feministinnen, Schwule, Juden, Cowboys, Evangelikaner, Politiker, Pamela Anderson. Alle geraten bei Borat unter Beschuss. Seine Reisereportage über die "größte Nation der Welt" ist nicht nur eine beißende Satire über den momentanen Zustand der amerikanischen Gesellschaft sondern zugleich auch ein subversiver Kommentar zum Umgang des Westens mit Ländern wie Kasachstan. Die gefakedte Dokumentation wird für so manch besorgniserregende Penetration der eigenen Lachmuskeln sorgen. Aber Achtung: Unbedingt auf die Originalfassung mit Untertiteln zurückgreifen. Eine Synchronisation sollte man sich bei Cohens Sprachkünsten nicht antun. Meine Besprechung gibt es bei Critic.de.

Donnerstag, Oktober 19, 2006

Shortbus - Generation 9/11

USA 2006

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New York nach 9/11. John Cameron Mitchell (Hedwig and the Angry Inch) lässt in der Stadt, die niemals schläft, Charaktere voller Obsessionen und Sehnsüchte in einem extravaganten Szene-Nachtclub mit Namen Shortbus aufeinander prallen. Während einige ihre Erfüllung in ekstatischem Gruppensex und Partnertausch finden, drohen andere an der Suche nach ihrem eigenen Glück zu zerbrechen. Mitchell drehte eine radikale Bestandsaufnahme großstädtischen Lebens, die über weite Strecken zu faszinieren weiß.

Filmkritik:

Jeder ist eine Insel, jeder lebt und stirbt für sich allein. Es ist ein Gefühl der Verlorenheit, das den Videokünstler Jamie (Paul Dawson), der selbst James genannt werden möchte, bestimmt. Zuletzt haben die Spannungen in der langjährigen Beziehung zu seinem Freund Jamie (PJ DeBoy) merklich zugenommen, ihre Partnerschaft und Sexualität droht einzuschlafen. Aus diesem Grund suchen beide die Paartherapeutin Sofia (Sook-Yin Lee) auf. Deren Sexleben ist jedoch keineswegs so erfüllt, wie es zunächst den Anschein hat. Trotz ausgefallener Stellungen und Techniken mit ihrem potenten Mann Rob (Raphael Barker) hat sie noch nie einen Orgasmus erleben dürfen. Es sind Jamie und James, die als erste diese Wahrheit von ihr erfahren. Sie beschließen, Sofia in den angesagten Nachtclub Shortbus einzuladen, wo sich ihre Wünsche endlich erfüllen sollen. Dort lernt Sofia die als Domina arbeitende Severin (Lindsay Beamish) kennen. Viel lieber, als Männer für Geld zu erniedrigen, würde sie ihre auf Polaroid gebannten Alltagsfotografien verkaufen. Eine respektierte Künstlerin zu sein, danach sehnt sie sich. Und nach einem Partner, der sie versteht.

Drei Handlungsstränge verwebt Regisseur und Autor John Cameron Mitchell zu einem urbanen Kaleidoskop, dessen beiläufige Konstruktion nicht zufällig an die Episodenstücke eines Robert Altman (Short Cuts) und Paul Thomas Anderson (Magnolia) erinnern. Mit Andersons Dramen verbindet Shortbus zudem der effektive und stimmungsvolle Einsatz von Originalmusik. Melancholische, gefühlvolle Stücke von Yo La Tengo, Azure Ray und dem Songwriter Scott Matthew, der auch im Film als Musiker zu sehen ist, kommentieren das Innenleben von Mitchells Figuren, unaufdringlich und angenehm zurückhaltend.

Dafür legt Mitchell beim Thema Sex jede in diesem Kontext falsche Zurückhaltung ab. Explizit, ohne pornographisch zu sein, stellt Shortbus die unterschiedlichsten sexuellen Spielarten dar. Masturbation, orale Selbstbefriedigung (!), Gruppensex, Kama Sutra, ob gleichgeschlechtlich oder hetero, alles ist möglich. Das geht weit über das hinaus, was in Larry Clarks oftmals angefeindeten Jugenddramen zu sehen war. Für Kontroversen dürfte mit Sicherheit ein schwuler Dreier sorgen, bei dem ein erregierter Penis als Mikrofonersatz genutzt wird, um sogleich mit voller Inbrunst die amerikanische Nationalhymne zu intonieren. Dabei ist Mitchell nur konsequent. Er zeigt lediglich das, worüber seine Protagonisten reden, worüber sie sich den Kopf zerbrechen. Eine erfüllte Sexualität, Nähe und Intimität bestimmen ihr Denken.

Vermutlich muss sich Shortbus mit dem Schicksal abfinden, auf seine Sexszenen reduziert zu werden. Das wäre ein echtes Ärgernis, bietet der Film doch eine atmosphärisch dichte und ungefilterte Bestandaufnahme des Post 9/11-Lebensgefühls einer verunsicherten und an sich selber zweifelnden Generation. Das mit den Darstellern in mehreren Workshops erarbeitete Skript und die natürlichen teilweise improvisierten Dialoge, die niemals in selbstgefällige Geschwätzigkeiten ausarten, verleihen Mitchells Arbeit einen faszinierenden realistischen Anstrich. Mit Ausnahme der letzten zehn Minuten, in denen Mitchell sich einer Überdosis „Heile Welt“-Kitsch hingibt, gelingt ihm auf diese Weise eine tragische wie überraschend humorvolle Annäherung an ein schwieriges Sujet. Der unverkrampfte Umgang mit Sexualität bleibt positiv in Erinnerung, ohne dabei alles zu dominieren. Mitchell selber bestätigt nach vielen Gesprächen mit Zuschauer diesen Eindruck: „Die meisten Leute erzählen mir, dass sie all den Sex bereits vergessen haben, wenn er Film zu Ende ist. Sex ist nur ein Aspekt, ein Pinselstrich im Leben meiner Figuren.“ Dazu findet er in einer Szene das passende Bild. Ein Freier ejakuliert auf ein expressionistisches Gemälde. Mit einem Schritt Abstand löst sich das Sperma in der Struktur des Bildes auf - für unsere Augen nicht mehr zu erkennen.

Für Programmkino.de.

Montag, Oktober 16, 2006

Children of Men - Ein Monster von Film

USA 2006

+++1/2

Engagiertes politisches Kino! Der Mexikaner Alfonso Cuarón wechselte nach seiner viel beachteten Harry Potter-Verfilmung mit Children of Men in das Genre des düsteren Endzeit-Thrillers. Die Adaption des gleichnamigen Romans von P.D. James überrascht mit einer radikal-semidokumentarischen Ästhetik. Cuarón besaß den Mut, konsequent alte Sehgewohnheiten beiseite zu legen. Ein Wagnis, das zumindest im Bereich der aufwändig produzierten Studiofilme seinesgleichen sucht.

FILMKRITIK:

Die Menschheit droht in Chaos und Anarchie zu versinken, weil sie aus unerklärlichen Gründen die Fähigkeit zur Reproduktion verloren hat. Seit über 18 Jahren ist kein Kind mehr geboren worden. Immer weitere Länder verkommen angesichts dieser ausweglosen Situation zu einem Spielfeld von gewaltbereiten Gruppen, Separatisten und Kriminellen. Einzige Ausnahme: Großbritannien. Mit harter Hand regiert dort ein totalitäres Regime. Dem Zustrom von Flüchtlingen aus aller Welt begegnet die Regierung mit der Einrichtung von Internierungslagern und militanten Abwehrmaßnahmen.

Während sich einige Menschen radikalisieren und den Widerstand gegen das Militärregime organisieren, flüchten sich wiederum andere in Sarkasmus und Apathie. So auch Theo (Clive Owen). Der Regierungsagent und ehemalige Aktivist hat nach dem Tod seines Sohnes die Entscheidung getroffen, ein unauffälliges und angepasstes Leben zu führen. Nur die Besuche bei seinem alten Freund Jasper (Michael Caine) stellen für ihn eine angenehme Abwechslung in einem ansonsten tristen Alltag dar. In dem Moment, als vermummte Männer Theo in einen Van ziehen und kidnappen, soll sich für ihn jedoch alles ändern. Er trifft seine Ex-Frau Julian (Julianne Moore) wieder. Sie führt eine Bewegung an, die sich für die Rechte der Flüchtlinge einsetzt. Theo soll für eine junge Frau mit Namen Kee (Clare-Hope Ashitey) wichtige Reisedokumente besorgen. Denn Kee erwartet ein Kind. Es könnte das Wunder sein, auf das die ganze Welt so lange gewartet hat.

Regisseur Alfonso Cuarón erntete anlässlich der Weltpremiere bei den Filmfestspielen in Venedig viel Beifall für seine mutige und radikale Umsetzung eines Romans der britischen Mystery-Autorin P. D. James. Children of Men zeichnet in düsteren, apokalyptischen Bildern eine erschreckende Zukunftsvision, die glücklicherweise kaum Kompromisse zugunsten einer massentauglicheren Konsumierbarkeit eingeht. Die ausschließlich mit Handkameras gedrehten Szenen transportieren den Endzeitkampf auf Londons Straßen in einer Intensität, die an die berühmte Landung in der Normandie aus Steven Spielbergs Der Soldat James Ryan erinnert – dieses Mal im Gewand eines futuristischen Thrillers in der Tradition von 12 Monkeys und 28 Days later. Da kleben Blutspritzer wie selbstverständlich für Minuten auf dem Kameraobjektiv. Die Gewaltexzesse zwischen Widerstandsgruppen und Militär finden nicht im Verborgenen statt, die Opfer und das Leid der Flüchtlinge füllen die gesamte Leinwand aus. Nur am Ende schenkt uns Cuarón einen Hoffnungsschimmer, damit wir nicht vollkommen desillusioniert und deprimiert das Kino verlassen müssen.

Aus einem ohnehin bereits adrenalintreibenden, temporeichen Plot ragen zwei ohne einen einzelnen Schnitt gefilmte Actionsequenzen besonders heraus, die mitsamt ihrer perfekten Choreographie noch lange in Erinnerung bleiben. Schon deshalb lohnt ein Kinobesuch. Wenn die tödlichen Einschläge näher kommen, und wir zugleich sehen, wie Menschen sozusagen am Fließband exekutiert werden, mutiert Children of Men zu einem Ritt auf der emotionalen Rasierklinge. Fast scheint es, als wolle Cuarón den Zuschauer in einer Art Schockstarre versetzen. Hierzu passt, dass er die musikalische Untermalung desöfteren zugunsten einer kraftvollen und bedrohlichen Soundkulisse aus MG-Salven und lautem Sirenengeheul zurücknimmt.

Obwohl mit dem Etikett „Science-Fiction“ versehen, ließe sich dieses Monster von Film ebenso gut als gesellschaftliche Parabel klassifizieren. Die Verweise auf das aktuelle Zeitgeschehen und die Historie des vergangenen Jahrhunderts sind evident. Krieg gegen den Terror, Clash of Cultures, das Verhältnis zwischen In- und Ausländern, alles Themen, die im Subtext mitschwingen und erklären, warum Children of Men vor allem eines ist: engagiertes politisches Kino.

Für Programmkino.de.

Sonntag, Oktober 15, 2006

Demnächst auf dieser Seite

Neue Kritiken zu

Borat (+++1/2) von Larry Charles

Fast Food Nation (+1/2) von Richard Linklater

Princesas (+++) von Fernando León de Aranoa

Freitag, Oktober 13, 2006

Ricky Bobby, König der Rennfahrer - Diese verdammten Franzacken...

USA 2006

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Das Duo Adam McKay und Will Ferrell hat sich nach Anchorman - The Legend of Ron Burgundy ein weiteres Mal zusammengetan, um eine fiktive höchst amüsante und skurrile Biographie zu verfilmen. Ferrell spielt den draufgängerischen Rennfahrer Ricky Bobby, dessen Passion der Bleifuß ist. Leider häufen sich für ihn die Probleme, als ein unliebsame Rivale - der arrogante schwule französische Formel 1-Rennfahrer Jean Girard (grandios gespielt und persifliert von Sacha Baron Cohen) - die Bühne der NASCAR-Serie betritt. Das Ergebnis ist witzig, melancholisch und teilweise recht albern - in einem positiven Sinn. Mehr zum Film gibt es bei Critic.de .

Mittwoch, Oktober 11, 2006

Eine unbequeme Wahrheit - Gore, der Wanderprediger


USA 2006

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Bereits auf allen fünf Kontinenten hat Fast-US-Präsident Al Gore seine Präsentation zum Thema "Globale Erwärmung und ihre Folgen" ghalten. Immer wieder versuchte er, unter seinen Zuhörern das Bewusstsein für die Problematik des Klimawandels zu schärfen. Die Dokumentation Eine unbequeme Wahrheit schildert mit verhältnismäßig zurückgenommenen filmischen Mitteln, wie Gore diese scheinbare Sisyphusarbeit angeht. Und sie gibt ihm ausreichend Gelegenheit, seine Argumenation anhand des Votrages auch dem Kinozuschauer nahe zu bringen. Als Schönheitsfehler entpuppen sich manche allzu platten Handlungsempfehlungen und eine mitunter etwas übertriebene Idealisierung Gores. Meine Besprechung lässt sich auf Critic.de finden.

Sonntag, Oktober 08, 2006

Thumbsucker - Die betäubte Jugend von White Suburbia

USA 2005

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Justin ist ein Thumbsucker, ein Daumenlutscher. Er nutzt jede Gelegenheit, ob auf der Schultoilette oder in seinem eigenen Zimmer, dieser Obsession nachzugehen. Weil seine Eltern und auch sein Kieferorthopäde Dr. Lyman (Keanu Reeves) davon wenig angetan sind, unterzieht sich Justin schließlich einer merkwürdigen Hypnose-Therapie. Mit zweifelhaften Ergebnis: Zwar ist er fortan das Daumenlutschen los, dafür steigert sich seine Unsicherheit in einen unerträglichen Zustand.

Als Justin urplötzlich während des Unterrichts aufsteht und die Klasse verlässt, werden er und seine Eltern (Vincent D’Onofrio und Tilda Swinton) zu einem Gespräch mit der Schulpsychologin zitiert. Diese diagnostiziert bei Justin ein Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätssyndrom. Da hilft nur noch eine Behandlung mit dem Medikament Ritalin. Die kleinen Glücksbringer in Pillenform verwandeln Justin in einen vor Selbstbewusstsein und Glück trunkenen jungen Mann, der die Anerkennung seiner Lehrer, Mitschüler und Eltern zurückgewinnt. So schlägt ihn sein Lehrer Mr. Geary (Vince Vaughn) als Leiter der Debattierklasse vor und auch das Verhältnis zu seinen Eltern verbessert sich ungemein. Doch auf den Rausch folgt auch hier die Ernüchterung. Justins Verhalten nimmt immer manischere Züge an, die er offenbar selber nicht mehr kontrollieren kann.

Es ist mittlerweile ein Markenzeichen amerikanischer Indie-Produktionen, ein erstklassiges Schauspielensemble in einer kleinen, unspektakulären Geschichte auftreten zu lassen. Thumbsucker-Regisseur Mike Mills, dessen Vergangenheit als Videoclip- und Werbefilmer sich in der Inszenierung glücklicherweise nicht in den Vordergrund drängt, fand mit Tilda Swinton, Vincent D’Onofrio und dem sonst im seichten Komödienfach anzutreffenden Vince Vaughn Darsteller, deren Engagement und Hingabe für ihre jeweiligen Rollen auch eine nach unzähligen Coming-of-Age-Dramödien nur mäßig originelle Story aus dem Sammelbecken der mediokren Slacker-Filme herausholen. Lou Taylor Pucci, der für seine Darstellung des Daumenlutschers mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet worden ist, hat hieran selbstredend einen ebenso so großen Anteil.

Thumbsucker - und das ist ihm hoch anzurechnen - geht nicht den Weg des geringsten Widerstandes. So sind Justins Manierismen und sein desöfteren arrogantes bis überhebliches Verhalten nur schwer mit einem an sich liebenswerten Charakter in Einklang zu bringen. Der Zuschauer wird in ein emotionales Wechselbad geschmissen, hin- und hergerissen zwischen einerseits Verständnis für Justins Situation und andererseits Sympathie für dessen Eltern, die sich ehrlich um ihren Sohn sorgen.

Wenn es Thumbsucker an etwas mangelt, dann an einer eigenen Handschrift. Mike Mills charmanter Low Budget-Streifen leidet unter den unweigerlichen Vergleichen mit seinen erfolgreichen und übermächtigen Vorgängern, allen voran dem letztjährigen Filmjuwel Garden State von Zach Braff und Richard Kellys Fantasy-Trip Donnie Darko. Mit dem zum Kult avancierten Donnie Darko verbindet ihn die Sensibilität für das komplexe, undurchsichtige Gefühlsleben eines nach Orientierung und eigener Identität suchenden Teenagers, aus Garden State scheint der stille, feinfühlige Humor entliehen zu sein, bei dem man nie das Gefühl hat, Mills mache sich über seine Figuren lustig. Besonders frappierend ist jedoch die Ähnlichkeit zu der Satire Glück in kleinen Dosen / The Chumscrubber, ebenfalls ein Werk über das Erwachsenenwerden, das die dunkle Seite von White Surburbia thematisiert.

Kritiker der amerikanischen Filmlandschaft werden Thumbsucker aus diesem Grund auch despektierlich als typischen Vertreter des Sundance-Kinos abtun. Innovationen, so ihr Vorwurf, seien unter der Käseglocke dieses Filmfestivals kaum mehr möglich. Aber vielleicht sind Justins Schultern für solch fundamentale Analysen einfach zu schmal und ohne Ritalin auch gefahrlos nicht zu überstehen.

Für Kino-Zeit.

Mittwoch, Oktober 04, 2006

Glück in kleinen Dosen - Da, wo die Zombies wohnen

USA 2005

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Die Untoten leben mitten unter uns. Wenn es nach Arie Posins Satire Glück in kleinen Dosen geht, lauern sie hinter adretten Vorgärten und schmucken Einfamilienhäusern. Sein Film erzählt in der Tradition berühmter Vorgänger wie „American Beauty“ und „Donnie Darko“ von den Abgründen in White Suburbia, wo Eltern sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern, weil sie bereits mit sich selber viel zu beschäftigt sind. Statt am Leben ihrer Sprösslinge teilzuhaben, vertrauen sie auf kleine Glücksmacher und Ruhigsteller in Pillenform.

FILMKRITIK:

Eigentlich könnte Hillside das Paradies auf Erden sein. Die herausgeputzte kleinstädtische Idylle imponiert mit einer fast schon klinischen Sauberkeit, freundlichen Menschen und einem äußerst luxuriösem Lebensstil. In Wahrheit, so lehrt uns Glück in kleinen Dosen, ist es jedoch für einen Heranwachsenden der Vorhof zur Hölle. Aus diesem wollte der stadtbekannte Drogendealer Troy (Josh Janowicz) entfliehen. Der Suizid war seine Antwort auf die Konformität der Verhältnisse und die Ignoranz seiner Eltern.

Mit Troys Tod fangen für seinen besten Freund Dean (Jamie Bell) die Probleme erst richtig an. Nicht nur, dass er sich mit den wenig subtilen Therapieversuchen seines als Psychologe landesweit bekannten Vaters (William Fichtner) herumschlagen muss, der Außenseiter wird zudem von einigen Mitschülern erpresst. Diese hoffen, über Dean an Troys Drogenvorräte zu gelangen. Weil Dean jedoch nicht daran denkt, auf ihre Forderungen einzugehen, setzen sie einen abenteuerlichen Plan in die Tat um. Sie entführen einen Jungen, von dem sie glauben, es handele sich um Deans jüngeren Bruder Charlie (Rory Culkin).

Regisseur und Autor Arie Posin inszeniert sein Spielfilmdebüt als Abfolge überdrehter bis surrealistischer Situationen, die, einem Ensemblestück nicht unähnlich, Mosaikstein für Mosaikstein das Bild einer zutiefst egozentrischen pathologisch depressiven Gesellschaft ergeben. Die Verortung dieser Befindlichkeiten in den herausgeputzten uniformen Einfamilienhäusern eines nahezu komplett weißen Vorortes stellt sechs Jahre nach Sam Mendes Geniestreich „American Beauty“ wahrlich keine neue Idee dar. Ebenfalls wenig eigenständigen Charme besitzt die gnadenlose Überzeichnung sämtlicher Figuren. Besonders die Erwachsenen mutieren bei Posin zu platten Abziehbilder gängiger Upperclass-Klischees. Entweder sie dürfen sich als notgeile Karrieristen oder traumatisierte Seelenwracks outen, die in der Monotonie ihrer eigenen Lebensumstände gefangen sind.

Vermutlich ist auch den Erfolgsproduzenten Lawrence Bender („Kill Bill“) und Bonnie Curtis („Minority Report“) aufgefallen, dass die Eckpfeiler der Story keinen Originalitätspreis verdienen, und daher wirft man uns ganz einfach ein anderes Leckerli hin, in der Hoffnung, wir mögen anbeißen. Wie es sich für eine in Sundance aufgeführte Indie-Komödie gehört, genügt die Liste der hier versammelten Charakterdarsteller gleich für ein halbes Dutzend Kinoformate. Bei „The Chumscrubber“, so der einprägsamere Originaltitel, ertappt man Glenn Close, Rita Wilson, Caroline Goodall, Ralph Fiennes, William Fichtner und Carrie-Anne Moss dabei, wie sie sich gegenseitig auf die Füße treten. So wenig Platz gesteht Posin jedem Einzelnen von ihnen zu. Und auch Jamie Bell als „Donnie Darko“-Nachfolger zitiert eher gelangweilt die in seine Figur eingeflossenen Vorbilder des Coming-of-Age-Genres. Die Verkörperung der Teenage Angst sah bei Gyllenhaal einfach um einiges glaubwürdiger und cooler aus.

Ähnlich dem in etwa zeitgleich produzierten „Thumbsucker“ versucht sich Posin an einer zugespitzten Zustandsbeschreibung der Prozac-Nation USA. Sein mit eigenwilligen Ideen (die Delfin-Episode) und visuellen Spielereien voll gestopftes Skurrilitätenkabinett weiß allerdings immer nur dann zu überzeugen, wenn er die Leblosigkeit und Absurdität der scheinbar heilen Erwachsenenwelt nicht mit einer deplazierten Ernsthaftigkeit zu relativieren versucht. Beispiele: Caroline Goodall übt sich geradezu manisch am Aufbau eines Vitamintablettenimperiums, und Rita Wilson bemerkt vor lauter Hochzeitsvorbereitungen das Verschwinden des eigenen Kindes nicht. Das macht Angst. Womöglich ist Glück in kleinen Dosen doch kein Kommentar auf den saturierten „American Way of Life“ sondern ein im „Desperate Housewives“-Look verpackter Zombieschocker.

Erschienen bei Programmkino.de.

Sonntag, Oktober 01, 2006

Deutschland, ein Sommermärchen - Ihr, Euer & Unser Weg

D 2006

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Ein Land feiert sich und seine Fußball-Helden. Auf einer so bislang nicht für möglich gehaltenen Welle der Euphorie schwebten Schweini & Co. im heißen Sommer dieses Jahres. Nicht nur wir Deutschen wunderten uns und über uns selbst, auch die Welt, die zu Gast bei Freunden war, rieb sich verdutzt die Augen über soviel fast mediterrane Lebensfreude und einem derart unverkrampften Umgang mit den Farben Schwarz-Rot-Gold. Klinsmann und seine Truppe machten es wahr, das Sommermärchen.

Sönke Wortmann, seines Zeichens leidenschaftlicher Fußball-Fan und neuerdings auch Dokumentarfilmer, begleitete die deutsche Fußballmannschaft von der Vorbereitung auf Sardinien bis zu den finalen Gänsehautmomenten auf der Fanmeile nach dem gewonnenen Spiel um Platz Drei. Ach ja, Platz Drei. Das klingt, wenn man es nüchtern schwarz auf weiß liest, wenig mitreißend. Doch alle, die dabei waren, sei es live vor Ort, bei einem der zahlreichen „Public Viewings“ oder nur am heimischen Bildschirm, werden etwas Anderes erzählen. Es war der perfekte Abschluss einer perfekten nicht enden wollenden Party. Und sogar die Enttäuschung nach dem unglücklich verlorenen Halbfinale hatte rückblickend betrachtet sein Gutes. Es bildete das notwendige tragische Element, an dem sich Emotionen abarbeiten und Mythen entstehen können.

Geschickt nutzt Wortmann die Bilder dieser einzigen Niederlage, um seinen Film zu eröffnen. Direkt werden wir als Zuschauer mit der Leere in den Gesichter der Spieler konfrontiert. Eben noch war der Traum, Weltmeister im eigenen Land zu werden, zum Greifen nah. Jetzt muss Motivator Klinsi mit 82 Millionen zerplatzten Hoffnungen fertig werden und neue Aufbauarbeit in Bezug auf die sensiblen, angeschlagenen Seelen seiner Jungs leisten. Aber gerade durch diesen ersten und einzigen emotionalen Tiefschlag, erscheint die folgende Chronik umso mitreißender. Wie sich die wahre Größe eines Sportlers erst im Moment der Niederlage offenbart und die antike Tragödie zugleich eine heilende Katharsis mitliefert, wohnt auch dem Scheitern ein positiver Aspekt inne. Dieser Dienstagabend in Dortmund schweißte Fans und Mannschaft erst richtig zusammen. Viel mehr, als es ein WM-Titel jemals könnte.

Deutschland – ein Sommermärchen schließt die Lücke zwischen den öffentlichen Auftritten der Kicker bei Pressekonferenzen und dem Geschehen auf dem Spielfeld mit vielen sehr intimen Szenen, in denen sich niemand verstellen muss. Die zuvor beschriebene Enttäuschung in der Kabine ist da nur ein Beispiel. Sönke Wortmanns Kamera entgeht nichts, was nicht gleichzeitig heißt, es würde auch alles gezeigt. Die Dusche war für ihn eine Tabuzone (Sorry Mädels), ebenso die Essen im Mannschaftshotel. Dennoch reduziert sich der Abstand zu den sonst eher unnahbaren Stars auf ein Minimum. Das Spaß-Duo Poldi und Schweini redet ungezwungen über die letzten Gedanken vor einem Spiel und über die neue Fußball-Philosophie des Jürgen Klinsmann. Miterleben zu dürfen, wie sich Trainer und Mannschaft gegenseitig aufputschen, wie sie spielerisch miteinander umgehen und die Begeisterung der Fans förmlich in sich aufsaugen, schon deshalb möchte man den Blick hinter die Kulissen nicht mehr missen.

Überhaupt funktioniert die Dokumentation nicht über das, was Wortmann aus über 100 Stunden Videomaterial zusammengestellt hat. Erst die Verknüpfung der eigenen WM-Erinnerungen mit denen der Protagonisten in den weißen Trikots ließ etwas in vielerlei Hinsicht Außergewöhnliches entstehen. Der Funke springt über, weil uns Wortmann auf eine unglaublich emphatische Zeitreise mitnimmt. Das eigentliche Spielgeschehen drängt er dabei zugunsten vieler teils skurriler (Angela Merkels verkrampfter Blitzbesuch samt anschließender Fragerunde) teils ergreifender (die Spaliere am Wegesrand) Anekdoten zurück. So zelebriert sein Film die Magie des Augenblicks, die Macht eines kollektiven Wir-Gefühls, das tatsächlich einem Märchen entsprungen zu sein scheint. Oder wie sollte man es anders erklären, dass ein ganzes Land von Flensburg bis Oberstdorf für diese Wochen in einem Traum aus Schwarz-Rot-Gold versank?