D/Ö/F/BEL 2004
++++ „Darwins Albtraum“ ist eine Dokumentation, die mich im Innersten erschüttert hat. So tief und unmittelbar wie nur selten ein Film zuvor. Der österreichische Regisseur Hubert Sauper fand am ostafrikanischen Viktoriasee das vielleicht irrwitzigste, zynischste und menschenverachtendste Fallbeispiel für den durch sämtliche Zeitungen wabernden Begriff der „Globalisierung“. Was in Deutschland zumeist eher abstrakt in Bezug auf Standtortnachteile und potentielle Absatzmärkte diskutiert wird, zeigt sich im entwürdigenden Elend an den Ufern des weltweit zweitgrößten Sees von seiner schrecklichsten Seite. Alles begann vor rund vierzig Jahren. Experten setzten eines schönen Nachmittags einige Nilbarsche in das Gewässer aus, mit fatalen Folgen für diesen Landstrich und dessen Bevölkerung. Denn die gefräßigen Räuber rotteten in den nächsten drei Jahrzehnten sämtliche anderen Fischarten radikal aus. Heute ist Kannibalismus, mangels Alternativen, unter den Tieren sehr weit verbreitet.
Im Zuge dieser ökologisch bedenklichen Entwicklung entstanden rund um den Viktoriasee zahlreiche Fischfabriken, in denen aus Nilbarschen Fischfilets werden, die dann ihre Reise nach Europa antreten. Die Afrikaner selber können sich ihren eigenen Fisch nicht leisten. Sie müssen sich stattdessen mit den Abfällen begnügen. Diese werden unter hygienisch katastrophalen Bedingungen auf riesigen Holzvorrichtungen zum „Räuchern“ aufgehängt. Fortwährend kriechen Maden über die verwesenden Fischkadaver. Ein beißender Amonniakgeruch liegt über dem gesamten Ort. Ein Albtraum. Parallel zeigt der Film das Leben der Straßenkinder, die ihre Eltern teils nicht kennen, teils bereits an AIDS haben sterben sehen. Er gewährt einen Einblick in den Alltag der Fischer, die oftmals auch das tödliche Virus in sich tragen, weil sie sich bei einer Prostituierten infiziert haben. Und er beleuchtet die andere Seite, die Welt der Fabrikbesitzer und Profiteure der Nilbarsch-Epidemie. Sauper freundete sich über viele Jahre mit den russischen Piloten an, welche für den Abtransport der Fischfilets nach Europa zuständig sind. Sie erzählten ihm von ihren Familien daheim in Russland und der Einsamkeit ihres Nomaden-Daseins. Nur darüber, was sie eigentlich aus Europa mit nach Afrika bringen, wollten sie keine Auskunft geben: Waffen für den Bürgerkrieg.
Dieser in sich logische, aber bis auf die Grundfesten inhumane Kreislauf wird vom Schmiermittel der Profitgier am Laufen gehalten. Hierbei spielt es letztlich keine Rolle, ob wir es mit Fischen, anderen Tieren, Pflanzen oder Rohstoffen zu tun haben. Das zugrunde liegende Prinzip ist stets dasselbe. Wenn der See endgültig ausgebeutet ist, weil die letzten Barsche zu Filets verarbeitet worden sind, bauen die Fabrikbesitzer ihre Zelte ab und ziehen an den nächsten Ort weiter. Die dann arbeitslosen Fischer, die Straßenkinder und Huren bleiben zurück und werden sich selber überlassen. Kommentarlos deckt
„Darwins Albtraum“ die fast schon grotesken Zusammenhänge auf. Die Spitze der zynischen Verkettungen ist erreicht, wenn die Kinder aus den weggeworfenen Plastik-Verpackungen der Fabrik flüssigen Klebstoff gewinnen. Alles hängt direkt oder indirekt mit der Installation der Fischindustrie zusammen. Dass in Afrika Millionen Menschen von Hunger, Seuchen und Prostitution bedroht sind, wissen wir alle.
„Darwins Albtraum“ geht es deshalb auch nicht um die Reaktivierung dieses Problembewusstseins, sondern um eine Verdichtung und Illustration an einem konkreten Beispiel.
Hubert Sauper, der bei der Vorpremiere in Köln selber anwesend war und sehr anschaulich von seinen Erfahrungen aus der Region berichtete, wollte keine investigative Dokumentation abliefern. Der letzte Beweis für den regen Waffenexport nach Afrika hat er zwar gefilmt, jedoch nicht in den fertigen Film eingefügt, weil er es schlichtweg für nicht notwendig hielt. Auch konfrontierte er den Zuschauer mit keinen Statistiken oder sonstige Zahlenkolonnen, diese kann jeder ohnehin mit ein paar Klicks im Internet selber aufrufen. Viel wichtiger war für ihn an dem Leben der Menschen dort am See teilzuhaben, ihre Perspektive einzufangen. Bevor Rafael, der Wachmann der Fischfabrik, so offenherzig über seine Vergangenheit als Soldat berichtete, bedurfte es eines monatelangen Annäherungsprozesses. Im Gegensatz zu manch anderen seiner Kollegen, bleibt Sauper immer unsichtbar, hält er sich stets im Hintergrund auf. Er richtet lieber das Objektiv auf seine Gesprächspartner. Was wir da zu hören bekommen, reicht von ignoranten Statements der Fabrikbosse („In Tansania gibt es eine Hungersnot? Keine Ahnung!“) bis hin zu einer ehrlichen Liebeserklärung an das Heimatland, gesungen von der Prostituierten Eliza, die, wir wie später erfahren müssen, von einem ihrer Freier brutal ermordet wurde.
Trotz des unbegreiflichen Elends strahlt
„Darwins Albtraum“ zugleich eine seltsam versöhnliche Stimmung aus. Es grenze an ein Wunder, dass die Afrikaner noch nicht jedem Weißen, der ihnen begegne, einfach den Kopf abschlagen, resümiert Sauper nach Filmende. Dazu passen die sehnsuchtsvollen Blicke der Menschen den startenden Iljuschins hinterher. Obwohl diese den Reichtum ihres Landes gerade ausfliegen, hegen sie keinen offenen Hass gegenüber den Europäern. Dabei verlassen nicht nur die Fische Tansania, sondern wenig später auch die eingenommenen Devisen, die das Land größtenteils für die Rückzahlung seiner Kredite aufwendet. Im Grunde genommen stellt der Film eine einzige simple Frage: „What the fuck are we doin’?“ Sauper gibt offen zu, selber keine schnelle Lösung für diese pervertierte Art des Globalisierungsgedankens zu haben. Alles andere wäre auch unehrlich dem Zuschauer gegenüber. Das Argument, Arbeit schaffe Wohlstand, ist uns mittlerweile so tief ins Mark eingebrannt, dass selbst gut gemeinte Hilfsgelder und Kredite der EU oder Weltbank (z.B. für den Bau einer Fabrik) den Teufelskreis nur noch weiter anheizen. Auch aus Unwissenheit über die tatsächlichen Lebensverhältnisse vor Ort werden diese Fehlentscheidungen getroffen (Sauper erzählte, dass es einen ganzen Abend dauerte eine EU-Delegation von dieser Realität und der Kausalität der Probleme zu überzeugen).
„Nachhaltigkeit“. Dieses schöne, eigentlich aus der Umweltökonomik stammende, Wort wird heutzutage nur allzu gerne von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten benutzt. Diese prangern die mangelnde inter-generationale Gerechtigkeit bei der Nutzung natürlicher Ressourcen an, Saupers Film ergänzt diese Sichtweise um den inter-kulturellen Aspekt. Wenn wir nicht schleunigst etwas an unserem Handeln gegenüber der sogenannten „Dritten Welt“ ändern, werden wir früher oder später alle an der vorherrschenden „Weiter So!“-Attitüde zugrunde gehen. Und das nachhaltig.
Nachtrag: Saupers Film wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. U.a. erhielt er den Europäischen Filmpreis für die "Beste Dokumentation" und einen César für den "Besten Debütfilm". Zudem wurde "Darwins Albtraum" für den Oscar in der Kategorie "Beste Dokumentation" nominiert, den er zweifellos hätte auch gewinnen müssen.
Seinerzeit veröffentlicht bei
kino.de.